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Der unperfekte Mitarbeiter – AD(H)S bei Erwachsenen

Erwachsene mit AD(H)S oder ADS ticken im Beruf anders. Expertin Sabina Pahlke zeigt auf, welche Besonderheiten sie haben und wie Führungskräfte sie optimal unterstützen und ihre Potenziale fördern.

Der Showmaster Eckart von Hirschhausen begeistert mit seinem Witz und seinem Temperament. Was viele nicht wissen: Er hat AD(H)S. In seinem ursprünglichen Beruf als Arzt war das ein Problem. Auf der Bühne jedoch sind seine Kreativität, Flexibilität und Impulsivität die Basis seines Erfolgs.

Für die systemische Beraterin und AD(H)S-Expertin Sabine Pahlke ist dies ein positives Beispiel. „Aber nicht alle Erwachsenen mit AD(H)S finden ihre Nische, in der ihre Disposition kein Problem ist. Viele wissen nicht, warum sie oft unkonzentriert und unstrukturiert sind oder mit ihrem impulsiven Verhalten anecken".

Immer auf Empfang

David M. hat AD(H)S. Er bringt auf den Punkt, was dabei besonders ist: „Was normalerweise vom Gehirn gefiltert wird, bekomme ich ungefiltert mit. Wenn ich zum Beispiel in einem Café sitze, fällt es mir sehr schwer, mich mit meinem Gegenüber zu unterhalten. Ich bekomme alles mit, was um mich herum geschieht: vorbeifahrende Autos, Gespräche von anderen Gästen, Geschirrklappern, Musik."

Bei den wenigsten Erwachsenen jenseits der 40 wurde im Kindesalter eine Diagnose erstellt. So ging es auch David M. Der mittlerweile 40-jährige IT-Systemadministrator ahnte schon als Schüler, dass er anders ist. „Du hast den ganzen Tag die Musik im Kopf, die du zuletzt gehört hast. Du klopfst den Takt eines Liedes mit – und störst damit natürlich den Unterricht". Doch er hatte nicht nur schlechte Noten, sondern auch Einser. „Manche Lehrer und Inhalte hatten die Kraft, mich zu packen. Vielleicht hat mich dann Physik den ganzen Tag beschäftigt, dafür war Latein abgemeldet".

David M. fand erst mit Anfang 30 einen guten Arzt, der die Diagnose AD(H)S stellte. „Für mich war es eine sehr große Erleichterung, gehört zu werden und zu wissen, was genau bei mir anders ist“, sagt er.

AD(H)S wächst sich nicht aus

Bei AD(H)S denken die meisten an Kinder. Lange galt die Lehrmeinung, dass sich die Störung im Erwachsenenalter verwächst. Doch wie es auf der Website des Vereins ADHS Deutschland e.V. heißt, belegen neuere Studien, dass 30 bis 50 Prozent der betroffenen Kinder auch im Erwachsenenalter Symptome zeigen, die sie in ihrer Lebensgestaltung erheblich beeinträchtigen. 

„Erwachsene mit unerkanntem AD(H)S haben oft schmerzlich gelernt, mit den Symptomen umzugehen und Kompensationsstrategien für den Alltag entwickelt“, sagt Sabina Pahlke. Inzwischen habe man auch herausgefunden, dass unerkanntes AD(H)S oft zu ernsthaften Problemen führt. So weisen beispielsweise Burnout-Patienten häufig ein bisher unbehandeltes AD(H)S auf.

Mit den eigenen Talenten am richtigen Platz

Ist die Disposition bekannt, rät Sabina Pahlke, diese bei der Berufswahl zu berücksichtigen: „Erwachsene mit AD(H)S halten Langeweile kaum aus und vermeiden alles Wiederkehrende und wenig Anregende. Sich selbst zu organisieren kostet viel Energie. Es lohnt sich, genau auf die eigenen Begabungen und Fähigkeiten zu blicken und sich zu überlegen, in welchen Berufen und Branchen diese am ehesten gefragt sind. Dadurch lassen sich ungeliebte Aufgaben verringern".

Hypoaktive Menschen, also Menschen mit ADS, fallen dagegen wenig auf: „Sie machen eher einen unmotivierten und oft müden Eindruck. Klare Strukturen, abgegrenzte Aufgabenpakete und Aufgabenstellungen und eine achtsame und unterstützende Umgebung können im Berufsalltag helfen. Kreativ sind auch sie, jedoch eher nach innen gerichtet“, sagt Sabina Pahlke.

David M. kann das bestätigen: „Ich muss mich sehr darauf konzentrieren, meine Aufgaben zu erledigen, nichts zu vergessen und mich nicht ablenken zu lassen. In einem IT-Beruf hat man das Internet ständig vor Augen. Hier nicht abzudriften ist eine große Herausforderung. Paradoxerweise suche ich mir immer Jobs mit möglichst vielen Projekten und Aufgabengebieten, um lange andauernde, eintönige Arbeiten zu vermeiden".

Auch abseits der Bühne, wie im eingangs erwähnten Beispiel, haben Menschen mit AD(H)S große Potenziale. „Besonders häufig punkten sie mit ihrer Kreativität. Außerdem sind sie gerne für andere da und enorm hilfsbereit“, sagt Sabina Pahlke. Auch David M. hat Stärken, mit denen er in seinem Beruf als Systemadministrator genau am richtigen Platz ist: „Mir entgeht sehr wenig, weil ich alle Aspekte ungefiltert erfasse. Deshalb bin ich beispielsweise sehr gut in der Fehleranalyse. Und meine Aufmerksamkeit und Neugierde helfen mir im Umgang mit Kollegen und Kunden".

Vom Manko beim Kind zum Pluspunkt beim Erwachsenen

Bei Menschen mit AD(H)S verändern sich in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen oft die Symptome. Was bei Kindern als sehr anstrengend empfunden wird, kann sich dann zu einer Stärke wandeln. Sabina Pahlke kennt Beispiele: „Sturheit wächst sich mitunter zu einer erstaunlichen Beharrlichkeit aus. Ist etwas wichtig, bleibt man dran. Die bei Eltern oft wenig beliebte Diskutierfreudigkeit fördert die Sprachfertigkeit und zeigt sich im Erwachsenenalter oft als Stärke. Der Drang zu reden und sich zu „produzieren“ hat schon so manchen Betroffenen auf die Bühne gebracht“.

Gute Behandlung und Unterstützung möglich

„Auch erwachsene Betroffene können gut behandelt bzw. unterstützt werden“, sagt Sabina Pahlke. „Ein mit der Symptomatik vertrauter Coach oder Therapeut kann mit den Betroffenen Kompensationsstrategien entwickeln, eine Struktur erarbeiten und bei der Suche nach weiteren Hilfen unterstützen. Es gibt, je nach Ausprägung der Symptomatik, gute alternative Behandlungsmöglichkeiten bis hin zur klassischen Medikation. Der erste Schritt jedoch ist die Selbsterkenntnis und die anschließende Offenbarung im näheren Umfeld".

David M. hat sich gegen Medikamente entschieden: „Tabletten helfen zwar, zwingen mich aber dazu, anders zu ticken. Nach einem Arbeitstag mit Tabletten bin ich sehr erschöpft und fühle mich, als wäre meine gesamte Tagesenergie aus mir herausgequetscht worden“, sagt er. Hinderlich für das Privatleben seien auch Begleiterscheinungen der Medikamente wie Appetitlosigkeit und Gefühlskälte. „Die Tabletten helfen dabei, zu funktionieren. Das mag für einen Arbeitstag oder eine lange Autofahrt gut sein, für einen gelungenen Abend mit meinem Kind eher nicht“, so David M. Er hat sich entschlossen, so zu sein, wie er ist: „Das Beste ist, mir Ruhephasen zu gönnen und mich mit Menschen zu umgeben, die mich akzeptieren und mir gern helfen“.

Führungskräfte können Ansprechpartner sein

Für Sabina Pahlke können neben Therapeuten und themenspezifischen Coaches auch Führungskräfte Betroffene unterstützen, sofern diese offen mit ihrer Symptomatik umgehen. „Gemeinsam können Beschäftigte und Führungskraft anhand der Stärken und Schwächen ein geeignetes Aufgabenfeld identifizieren. Außerdem können sie konkrete Vereinbarungen treffen, falls der Beschäftigte wenig hilfreiche Verhaltensweisen zeigt. Alleine aufgrund der eigenen Beobachtungen kann bei der Führungskraft der Eindruck entstehen, dass die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter demotiviert ist oder keine Lust hat. Hier helfen gezielte Fragen, um den Themen auf den Grund zu gehen".

Hilfreich sind laut Sabina Pahlke außerdem Seminarangebote, die sich um den Menschen hinter der Arbeitskraft drehen, sowie Angebote für die psychische und physische Gesundheit. 

David M. hat sich bisher seinem Arbeitgeber nicht offenbart, sagt aber: „Wenn ich meinen Arbeitgeber in Kenntnis setze, würde ich mir wünschen, wie jeder andere an meiner Arbeit gemessen zu werden und die Aufgaben zu bekommen, für die ich eingestellt wurde – und dass meine Führungskraft mit mir spricht, wenn sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden ist".


Sabina Pahlke ist NLP-Practitioner, systemische Beraterin und Supervisorin. Im Rahmen
der pme Akademie bietet sie Webinare und Beratungswerkstätten zum Thema AD(H)S an.

Quellen: ADHS Deutschland e.V.

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