Asset-Herausgeber

Franziska Schutzbach
Führung & HR

„Wir brauchen die Care-Revolution“

Vor wenigen Wochen erschien Ihr neustes Buch „Die Erschöpfung der Frauen: Wider die weibliche Verfügbarkeit“. Darin beleuchten Sie, wie vielfältig die gesellschaftlichen Ursachen für die Belastung von Frauen sind. Woher kommt die Erschöpfung?

Franziska Schutzbach: Ein wichtiger Aspekt dieser Verausgabung sind die unsichtbaren Tätigkeiten. Ich nenne sie in meinem Buch auch Beziehungsarbeit, und die übernehmen Frauen sowohl in Familien und privaten Zusammenhängen als auch im Beruf unter Teamkolleg:innen. Sie fühlen sich für Beziehungsabläufe zuständig, dafür, dass es allen gutgeht, die Kontakte mit Verwandten gepflegt werden und der Kollege einen Geburtstagskuchen bekommt. Frauen realisieren oft gar nicht, wie viele von diesen unsichtbaren Tätigkeiten sie übernehmen, und merken folglich auch nicht, dass sie Pausen bräuchten. Sie kümmern sich automatisch um die Bedürfnisse der anderen, weil sie es so gelernt haben und es zum Alltag gehört.

Historisch hat das damit zu tun, dass die Rolle der Frau im Zuge der bürgerlichen Gesellschaft mit der Gebenden gleichgesetzt wurde – Männlichkeit hingegen wird mit Öffentlichkeit und Erfolg im Beruf assoziiert. Das ist so stark eingeprägt, dass Menschen das Gefühl haben, ihre Daseinsberechtigung als Mensch hänge davon ab, dass sie diese Rollen gut erfüllen. Tatsächlich müssen Frauen zum Beispiel mit Sanktionen und massiven Anfeindungen rechnen, wenn sie keine „guten Gebenden“, keine „guten Mütter“ sind, wenn sie sich „unempathisch“ geben oder kühl.

Wann merkt frau, dass sie erschöpft ist?

Die Symptome sind nicht immer einheitlich. Aber ein Anzeichen dafür kann sein, wenn private Beziehungen unter der Erschöpfung leiden und keinerlei Energie mehr besteht. Ständige Müdigkeit sorgt dafür, dass bereits kleinste Verrichtungen sämtliche Energie rauben. Das kann im Extremfall bis hin zu richtigen Burnout-Symptomen führen. Sehr oft warten Frauen viel zu lange und versuchen durchzuhalten. Sie gehen über ihre körperlichen und psychischen Grenzen. Das hat auch damit zu tun, dass die sorgenden Tätigkeiten, für die Frauen oft zuständig sind, nicht einfach unterbrochen, liegen gelassen oder bestreikt werden können. Wenn wir diese Art Arbeit liegen lassen, leiden sofort Menschen. Das macht es schwer, sich abzugrenzen, sich Pausen zu nehmen. Menschen, die Verantwortung für Sorgearbeit übernehmen, sind für Erschöpfung anfälliger.

Inwieweit unterstützt das kapitalistische System die Erschöpfung der Frauen?

Das Bild der Gebenden kommt der Gesellschaft natürlich zugute. Wenn behauptet wird, Frauen würden das von Natur aus machen, kann daraus abgeleitet werden, sie könnten Sorgearbeit unbezahlt oder schlecht bezahlt und aus Liebe machen. Die Wirtschaft profitiert davon, dass Frauen diese Rolle zugeschrieben wird, dass Frauen diese Zuschreibungen oft selber übernehmen und weltweit pro Tag Milliarden Stunden unbezahlte Kümmerarbeit verrichten. Wir müssen wirklich verstehen, dass bestimmte christliche Rollenbilder ganz stark mit ökonomischen Interessen zu tun haben.

Sie sprechen in Ihrem Buch nicht von den Frauen, sondern von der Erschöpfung unterschiedlicher Frauen. Wonach unterscheiden Sie, und wie unterschiedlich stark sind sie in diesem System betroffen?

Ja, absolut. Es gibt nicht die Frauen, die erschöpft sind. Sie sind auf sehr unterschiedliche Weise von der Erschöpfung getroffen. Dabei kommt es sehr stark auf die soziale Herkunft, Bildungsprivilegien und die finanzielle Situation an. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang zu beleuchten, inwiefern diese Erschöpfung unter Frauen zwangsläufig weitergegeben wird. In einigen Fällen kaufen sich privilegierte Frauen die Care-Arbeit von weniger privilegierten Frauen ein. Darin verbirgt sich das Problem, dass die Wirtschaft die Sorgearbeit als unwichtig und irrelevant einstuft.

Dieses Grundproblem der kapitalistischen Gesellschaft wird letztlich an die noch schwächeren Mitglieder der Gesellschaft abgegeben, die für ihre Tätigkeiten schlecht bezahlt werden und in arbeitsrechtlich nicht abgesicherten Arbeitsverhältnissen stecken. Diese Frauen hinterlassen wiederum in ihren Herkunftsländern große Lücken, die dann von ihren Müttern, Großmüttern und Tanten geschlossen werden müssen. Es ist also wichtig, das Thema der weiblichen Erschöpfung auch global zu denken.  

Inwieweit leiden Frauen an einem schlechten Selbstvertrauen?

Frauen leiden unter einem schlechteren Selbstvertrauen. Natürlich gibt es auch Männer mit schlechtem Selbstvertrauen, aber in der Tendenz ist es so – und das hat seine Gründe: Frauen werden weniger ernst genommen als Männer, ihnen wird weniger zugetraut, und sie werden oft abgewertet. Auch wird ihnen zum Beispiel weniger Expertise zugesprochen. Das belegen auch Studien. Es konnte zum Beispiel aufgezeigt werden, dass Lebensläufe von Frauen schlechter bewertet wurden, obwohl sie die gleichen Qualifikationen wie Männer nachweisen konnten. Trotzdem wurde ihnen in dem Fall weniger Führungskompetenz zugemutet.

Warum wirken Männer in Gruppen bestärkend und Frauen eher spaltend?

Menschen, die zu marginalisierten oder unterdrückten Gruppe gehören, kritisieren sich oft gegenseitig, werten sich ab oder bekämpfen sich. Immer in der Hoffnung, dass sie dann einen Platz an der Sonne der Herrschenden bekommen. Dabei geht es um den Kampf um Anerkennung. Menschen, die Diskriminierung erfahren, zeigen sich nicht automatisch solidarisch untereinander, sondern verhalten sich nicht selten zugunsten der Herrschaftsstrukturen.

Zudem ist die Bewertung von Frauen ein inhärenter Bestandteil der patriarchalen Kultur. Diese Logik haben auch die Frauen selber stark internalisiert, so dass sie oft in einer Art besonders harter Selbstobjektivierung auf sich und auf ihre Geschlechtsgenossinnen schauen. Diese Form der gegenseitigen Bewertung spiegelt sich besonders auffällig in der Instagram-Kultur wider.

Wie können Frauenbeziehungen gestärkt werden?

Mädchen und Frauen haben einen derart strengen Blick auf sich selbst, aber auch auf andere Frauen, weil sie das so gewöhnt sind. Frauen sind damit aufgewachsen, immer besonders streng bewertet zu werden. Das können wir nur ändern, indem wir darüber ein Bewusstsein entwickeln und frauenfeindliche Vorurteile als Frauen selbst abbauen. Das halte ich für eine ganz wichtige Arbeit gegen sexistische Strukturen. Es geht tatsächlich nicht nur darum, dass die Männer sich ändern müssen, sondern dass Frauen ihre eigene Rolle als Mittäterinnen reflektieren. Das trägt dazu bei, solidarische und klare Verhältnisse gegenüber anderen, aber vor allem auch gegenüber sich selbst zu entwickeln und einen weicheren und weniger perfektionistischen Blick auf das Frausein zu richten.

Im privaten Umfeld tragen Frauen nach wie vor die Hauptverantwortung für Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen. Mit zunehmender Berufstätigkeit sind sie oft an ihren Belastungsgrenzen. Wie lange soll das noch gutgehen? Warum fühlen Männer sich nicht verantwortlich?

Es hat zahlreiche Nachteile, Sorgearbeit zu übernehmen. Es wirkt sich ökonomisch negativ aus, unbezahlte Arbeit zu machen. Genau aus diesem Grund sind Frauen im Alter öfter von Armut betroffen. Die Verantwortung für andere Menschen hindert Menschen zudem am beruflichen Durchstarten, Sorgearbeit ist prestigelos und verträgt sich nicht mit den neoliberalen beruflichen Dauerverfügbarkeitsanprüchen. Viele Männer drücken sich, weil klar ist, dass sie echt zurückstecken müssten, würden sie gleich viel Sorgearbeit übernehmen.

Wie bereits erwähnt ist auch das Bild des Mannes historisch gewachsen. Es gehört nicht zur männlichen Konzeption, zu kochen und Kindern den Po zu wischen. Männlichkeit ist eben konnotiert mit beruflichem, mit ökonomischem Erfolg, mit Stärke, mit Politik, mit Öffentlichkeit und mit Leistung. Allerdings hat sich das Bild des Mannes bereits geändert. Männer machen heute tatsächlich mehr in der Hausarbeit als noch vor 50 Jahren. Doch sie bleiben meistens Assistenten. Sie gehen nicht ins Cockpit. Dort sitzen die Frauen und haben die Hauptverantwortung. Sie wissen, wo die Skiklamotten im Keller liegen, denken an den Arzttermin der Kinder und kontrollieren die Hausaufgaben. Deswegen sind sie von mentaler Überlastung stärker betroffen, weil sie eben dieses Management dauernd übernehmen.

In Ihrem Buch appellieren Sie, dass Arbeit dazu dienen sollte, die Bedürfnisse von Menschen zu erfüllen. Und nicht umgekehrt die Arbeit der Menschen die Bedürfnisse der Finanzwirtschaft. Dazu benötigen wir einen Paradigmenwechsel: eine Care-Revolution. Was braucht es dafür?

Es ist mir wichtig zu betonen, dass die Vorschläge in meinem Buch nicht nur von mir kommen. Wir sprechen schon seit Jahrzehnten in der feministischen Theoriebildung und auch in den Bewegungen von dieser unbezahlten Sorgearbeit und darüber, dass die Wirtschaft diese Sorgearbeit ausbeutet und als privater Natur und Arbeit von Frauen definiert.

Wir sollten Sorgearbeit endlich als wichtigen Bestandteil der Gesellschaft und der Wirtschaft ins Zentrum von ökonomischen Theorien stellen. Bisher war sie immer unsichtbar, ihr Anteil an der Wirtschaft wurde komplett negiert. Das muss aufhören, stattdessen muss erkannt werden: Es ist ökonomisch und gesellschaftlich von hohem Wert, Menschen zu versorgen. Ohne diese Arbeit kann keine Ökonomie funktionieren, Sorgearbeit ist die Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft. Sie muss deshalb aufgewertet werden. Wenn wir das nicht tun, dann wird es längerfristig auf eine Ausbeutung hinauslaufen, und da untergräbt der Markt dann seine eigenen Grundlagen. Genauso verhält es sich mit unseren ökologischen Ressourcen. Wenn wir immer nur ausbeuten und nicht dafür sorgen, dass diese Ressourcen sich wieder gut erholen können, bricht das System irgendwann in sich zusammen.

Daher müssen wir in Bezug auf die Sorgearbeit darauf achten, dass alle Menschen genug Zeit und Ressourcen bekommen, um diese Tätigkeiten auszuführen. Letztlich bedeutet es, dass wir die Erwerbsarbeit reduzieren. Die gesamte Orientierung unseres Lebens darf nicht mehr nur an der Erwerbsarbeit hängen, also an der Arbeit, die kurzfristig Profite erzielt und Lohn generiert. Zum Menschsein gehört mehr. Und zwar, dass wir Kranke pflegen, Kinder versorgen und Beziehungen pflegen. Wenn wir mehr füreinander sorgen, nicht erschöpft sind, sondern Kraft haben, ist das eine gute Basis für ein gesundes Wirtschaften.

Wann haben Sie das letzte Mal “Ja” gesagt, obwohl Sie eigentlich “Nein” dachten?

Ich habe das Gefühl, dass mir das eigentlich dauernd passiert. Ich tendiere oft dazu, „Ja“ zu sagen, aus Angst, dass ich bestimmten Erwartungen von anderen Leuten nicht entspreche. Das ist dieser Druck, es anderen recht machen zu müssen. Dieses Gefühl zu haben war eine Motivation für mich, das Buch zu schreiben. Mittlerweile habe ich besser gelernt, „Nein“ zu sagen, aber das schlechte Gewissen ist nach wie vor da.


​​​​​​​Franziska SchutzbachDr. Franziska Schutzbach, geboren 1978, ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seither ist sie eine bekannte und gefragte feministische Stimme auch über die Schweiz hinaus.

 

 

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